© by Thore Rudzki
4. Die erste Reise – gleich eine
falsche Hoffnung
„Schau – da sieht man zum ersten Mal die Alpenkette, wie sie
plötzlich aus der Erde steil aufsteigt!“ Nach endloser Fahrt auf der
A7 näherten wir uns dem Allgäu. „Warst Du schon einmal in dieser
Region – bei Schloß Neuschwanstein doch sicher?“
Sie nickte energisch – und grinste leicht: „Aber natürlich! Mit meinen
Eltern. Als Kind – mit 11 Jahren. Du glaubst mir, daß ich mich
eigentlich an nichts erinnere. Sagen wir einfach, es ist alles neu für
mich. Aber haben wir denn Zeit, das Schloß zu besichtigen?“
„Nein – das kann etwas knapp werden. Erst Gerhards Geburtstag –
dann Hopfen am See, wo ich 10 Jahre lebte. Wahrscheinlich nur von
dort ein Abstecher nach Österreich. Tja – und dann der Höhepunkt,
der nicht zu verschieben ist, die Kristall-Therme! Oh – so viele Zeit
habe ich dort verbracht. Teils 3-mal pro Woche. Es war für mich eine
Flucht aus der Anforderung der Pflege meiner Eltern – ein kurzer
Urlaub jedes Mal, etwas für mich - als Ausgleich.“
Wir näherten uns dem Autobahnende – und dem Tunnel nach
Österreich. „Da fahren wir demnächst durch, jetzt aber geht es erst
einmal ins Hotel.“
Als ich bei der Ausfahrt nach rechts abbog, zeigte sie in die
Gegenrichtung: „Nach Füssen geht es doch nach links, stand auf
dem Schild?!“
„Ja –die Umgehungsstraße schon - und dann der Hauptweg. Aber
hier der Schleichweg durch die Natur wird Dir mehr gefallen – wir
nähern uns dem Ort von der anderen Seite. Warte auf die Stelle,
wenn es über die Brücke geht – hinter dem Hopfensee das Schloß
auftaucht. Das ist mit der schönste Blick. Extra für Dich.“
Bis dahin kamen aber noch einige Kurven, die Käserei – nein, nichts
hatte sich hier verändert – es war friedlich und schön. Die
Erinnerung an einige sehr ruhige Jahre in dieser schönen Natur
kamen wieder an die Oberfläche. Ja – es war ein guter Anfang für
unsere Suche!
Schon vor Jahren hatte ich damals die Seeufer abgefahren. Um
vielleicht ein Haus oder Grundstück zu finden, wo man leben
könnte. Aber damals ging es mir mehr um die Nähe zum Wasser.
Was für ein verrückter Traum, ein Haus an einem See – eigentlich
unrealistisch, da unbezahlbar.
Einen fast perfekten Ort hatte ich zwar entdeckt – etwas erhöht.
Aber dadurch mit tollem Seeblick und den Alpen dahinter. Jedoch
hatten die einheimischen Hohlköpfe da einen riesigen Kuhstall
hingebaut! So einen tollen Blick hat sicher kaum eine Kuh in
Deutschland...
Ich mußte natürlich auf der Brücke vor dem Hopfensee kurz
anhalten. Der Verkehr war dort so minimal wie immer. Weil sie dort
ihr Handy zückte, um ein Foto von See, Bergen und Schlössern zu
machen. Und noch ein Foto und…
Nachdem sie aufgehört hatte, zu schreien: „Halt an, halt an!“, wollte
ich weiterfahren.
Doch sie stieg sogar auch noch aus, um den richtigen Vordergrund
zu bekommen – gut, die Warnblinkanlage würde mich sicher als
Tourist entschuldigen.
„Einmalig! Wirklich – so schön hätte ich es mir nicht vorgestellt. Wie
konntest Du hier nur fortgehen?!“
„Och“, seufzte ich, „wir sind hier in 800m Höhe – das Haus meines
Vaters war ganz oben auf dem Enzensberg in genau 900m. Das
hieß: 6 Monate Winter und kaum warme Sommerabende – ich
konnte die Kälte hier nicht mehr ertragen.“
Am nächsten Tag reagierte mein Freund Gerhard ganz begeistert
auf unsere Suchpläne - nach einem neuen Lebens-Schwerpunkt. Er
hoffte wohl, daß wir hier in seiner Nähe etwas finden würden. Nun,
nicht ganz uneigennützig, da er sich auf Gesellschaft freute. So
pries er uns verschiedene kleine Orte im Umkreis von Füssen als
ideale Möglichkeiten an. Gar bot er sich an, uns zu führen. Was ich
aber erst einmal mit Hinweis auf die Besichtigung meiner alten
Umgebung verschob.
Bei strahlend schönem Sonnenwetter bummelten wir die
Uferpromenade in Hopfen entlang. Ich hatte mich noch nicht
entschieden, in welchem Restaurant wir zu Mittag essen sollten –
keines war mir wirklich überzeugend in meiner Erinnerung
geblieben. Das lag am Massentourismus mit seinen Grundregeln,
die mir eine Bedienung einmal nannte: Es müssen große Portionen
sein – und die billig – auf die Qualität kommt es weniger an. Logisch
– die meisten kamen sowieso nicht wieder an diesen Ort zurück –
ein besonders guter Geschmack wäre nur dafür als Grund wirklich
wichtig gwesen…
Sie stand am Seeufer und staunte die Grünflächen an – dort, wo
schon einige Touristen in der Sonne lagen. Eine wirkliche Idylle – für
fremde Augen. Ich zeigte auf das flache östliche Ufer: „Es ist ideal
flach, um leicht ins Wasser zu kommen. Dort hinten hatte ich meinen
idealen Platz gefunden. Aber man sollte Badeschuhe anziehen, die
Steine am Seeboden sind schon schmerzend.“
Zwischenzeitlich waren wir am abgezäunten Schwimmbad-Bereich
angekommen. „Ach – hier ist es ja noch schöner – hier möchte ich
schwimmen gehen, nicht in der
Therme“, rief sie aus. Und bekam
überraschend Antwort von einem Mann,
der hinter uns mit seinem Hund entlang
spazierte: „Vergessen Sie das mit dem
hier Schwimmen – das macht Sie
krank!“
Sie fuhr herum und starrte ihn mit großer Überraschung und
Unverständnis an. Er wies mit seinem Arm auf die Hügel um den
See. „Dort sind überall Viehweiden – eigentlich überall um den See.
Und der See ist unten – die Weiden oben. Alles, was auf die Wiesen
als Dünger an Gülle ausgebracht wird, schwemmen die
Regenschauer den Hang hinab. Herunter hier in den See.“
Ihr typisches langgezogenes „Ihhhh“ erklang wieder. „Dann
schwimmt man ja in Kuhsch…! Das ist ja ekelhaft. Aber, müßte man
das jetzt nicht schon riechen?“
„Die Bauern dürfen nur kurz vor
angekündigtem Regen die Fäkalien
ausbringen. Ein jämmerlicher, ekelhafter
Gestank hier in der gesamten Region“.
Ich nickte zustimmend, es war wirklich
immer ein Grauen.
„Durch den baldigen Regen wird die Geruchsbelästigung dann
weitgehend gestoppt. Sonst kämen keine Touristen mehr in diese
Gegend. Aber, da mit der Veränderung des Klimas auch die
Regenstärken zugenommen haben, wird viel von dem Kuhdung
hinab gespült – hinab bis in den See. Deshalb werden natürlich
auch regelmäßig Proben genommen, ob das Wasser die Kloaken
auch ausreichend verdünnt.“
„Nein, nein, nein“, unterbrach sie ihn energisch. „Gifte und Hormone
wirken doch gerade auch in kleinen
Mengen. All das, was die armen
Tiere an Medikamenten und
verbotenen Wachstumshormonen
bekommen, kann man bestimmt
nicht riechen – aber es ist da – im
Wasser. Wir kommen beim
Schwimmen damit in Berührung, Verschlucken es eventuell sogar.
Ihhhhh!“
Jetzt schaute der Hundemann überrascht, wollte abwiegeln.
„Nein“, sagte ich entschieden, „wir wissen gar nicht, was den Tieren
alles an illegalen Mitteln und im Übermaß verabreicht wird.
Befreundete Landwirtschafts-Studenten
erzählten mir schon während des
Studiums in den 70ern, daß sie mit
einem Anhänger schnell mal nach
Holland fuhren. Um sich dort all das zu
holen, was bei uns verboten ist. Wegen
der Dosierung für die Tiere gab man
sich auch keine Mühe, es wurde
schaufelweise verabreicht.“
Wir gingen betrübt zum nächstgelegenen Restaurant. Wenigstens
war ein Tisch draußen in der Sonne frei. Und es gab dort noch die
kleinen Vorspeisen, die ich dankbar kombinierte. Aber bei den
Getränken hatte man wieder angefangen zu sparen – der Apfelsaft
war so verdünnt wie Apfelschorle. Ja, die Pächter wechselten hier
häufig – es war ein schweres Geschäft. Da der Sommer das Geld
mit für das Winterhalbjahr zu erbringen hatte – es dort meist sehr
ruhig wird. Also schütteten sie wieder Wasser in die Getränke. Das
kannte ich.
Am nächsten Tag - nach dem Frühstück - überraschte sie mich, als
ich gerade meine Badesachen zusammen suchte. Denn ich freute
mich schon auf die Therme:
„Ich habe heute morgen ein Glas des Leitungswassers getrunken –
es schmeckte sehr gut, überraschend gut!“
„Hmmh ja – das kommt nicht aus den Gülle-Seen – es wird aus
Österreich mit langen Leitungen hierher transportiert. Aus einem
großen, sehr tiefen See – fast vollständig von Bergen umgeben.
Und es ist wirklich gut – ich weiß.“
„Dann fahren wir jetzt da hin! Wenn das Wasser gut ist, wird auch
das Umfeld vielleicht gut sein. Ob Deutschland oder Österreich –
egal – es gibt ja keine wirklichen Grenzen mehr. Die Therme
besuchen wir dann hinterher - zum Ausruhen“.
Eine überzeugende Argumentation – und kein langer Weg. Jetzt
also durch den langen, neuen Tunnel, auf dem Rückweg würden wir
aber die alte Grenz-Strecke nehmen, die fast genau zur Therme
führte. Das ein paar Felsbrocken des Tunnelbaus per Kran im
Garten meines Vaters gelandet waren, fand sie weniger interessant.
Sie starrte nur nach vorne, ob nicht bald der Tunnel-Ausgang käme.
Kurz vor der nächsten Stadt bogen wir links ab – etwas Wasser sah
man neben der Straße, dann ein kleinerer See. „Warte – wir müssen
erst an der Staumauer vorbei.“
Und da lag er – sehr dunkel – und dadurch noch tiefer wirkend. Wir
fuhren um den See herum – auf sehr schmaler Straße, mit dunkler
Erinnerung. Hier hatte mir ein Australier mit seinem geliehenen
Wohnmobil einen Spiegel abgefahren – mit der tollen Begründung,
daß man hier doch 70 fahren dürfe…
Tja – wenn die Straße frei ist – und man weiß, wie man auf der
rechten Straßenseite fährt. Aber heute war kein anderes Fahrzeug
weit und breit zu sehen. Und auch der Parkplatz am anderen Ende
war fast leer.
„Ja – hier ist es schön. Und die Luft ist klar.“ Sie war inzwischen
ausgestiegen - wir gingen bis zum Wasser. Herrlich die Sonne,
überraschend warm – ich kannte die Gegend aber anders. Jetzt
kam etwas Wind auf, doch es war noch angenehm. Und wir gingen
etwas am Ufer entlang.
„Da stimmt etwas nicht – es riecht so komisch!
Eben erst – mit dem Wind.“
Und der Wind kam von Westen – und mir fiel ein,
woher der Geruch kommen mußte.
„Es gibt hier eine Fabrik, die Metalle verarbeitet –
ähnlich der in Hanau, die ich Dir zeigte.“
[Im Hintergrund sieht man den See – zwischen
den hohen Bergen – vorne die großen
Fabrikanlagen]
Das Stichwort reichte ihr, sie rannte zum Auto
zurück. „Wie können die hier, in diese herrliche
Berglandschaft, so eine giftige Fabrik bauen? Also nein – in so eine
Gegend will ich nicht.“
Vor Jahren hatte ich mich schon in all den kleinen Seitenstraßen
umgeschaut – und war nur enttäuscht worden. Denn die
allermeisten Berge hier sind zu steil und hoch. Die Orte und Häuser
liegen den halben Tag im Schatten – im Sommer und erst recht im
Winter. Also kein Ort zum Leben.
Bis zur Therme schwiegen wir – enttäuschte Hoffnungen sind
schwer zu verarbeiten. Hier war das Wasser in Ordnung -und es gab
genug davon. Aber wenn die Luft verpestet wird, macht das einfach
keinen wirklich gesunden Wohnort aus. Und die fehlende Sonne
durch die hohen Berge, hatte ich ihr gegenüber gar nicht erwähnt.
Die mangelnde Luft-Qualität reichte uns schon.
Durch das herrliche 33° bis 35°C warme Salzwasser in den Becken,
befreundete sie sich wieder etwas mehr mit dieser Gegend am Fuße
der Alpen. Sie schlug vor, Gerhards Vorschlag doch anzunehmen
und uns von ihm einige besondere Ecken im Tal zeigen zu lassen.
Aber zuerst nahm ich sie mit heraus in die Außenbecken, deren
Salzgehalt dem Toten Meer entsprach. Es ist ein einmalig
beeindruckendes Gefühl, im Wasser zu schweben. Und nicht
untergehen zu können. Lustig wurde es, als sie versuche aus der
Rückenlage die Füße wieder auf den Boden zu bekommen – man
brauchte da etwas Erfahrung.
Der Nachmittag stand noch zur Verfügung – und Gerhard bereit am
Straßenrand. Per Handy hatten wir ihm nur 20 Minuten zur
Vorbereitung gelassen – gut, alle Entfernungen sind dort unten nicht
sehr groß.
Ich hatte es geahnt – es ging zum Weißensee, eine Gegend, von
der Gerhard schon immer geschwärmt hatte. In Seenähe war
natürlich schon alles verbaut. Und das viel zu eng – dahinter fast
schon stadtähnliche Siedlungen. Blick auf die Berge über Dächer
hinweg oder zwischen zwei Häusern hindurch.
Etwas weiter außerhalb dann kleinere Örtchen – zwischen den
Hügeln mit Viehweiden. Sie schüttelte nur den Kopf: „Keine Gülle in
meinem Garten, nein.“
Den Bereich Pfronten lehnte ich grundsätzlich ab, weil das meiste
dort zu stark im Schattenbereich der Berge liegt. Und ich es von der
Schwarzen Witwe kannte, die meinen Vater kurz vor seinem Tod
ausnehmen wollte. Allein das reichte mir, dieses Gebiet abzulehnen.
Danach Richtung Eisenberg – nein, es waren keine hübschen Orte.
Und sie entsprachen nicht unserem Geschmack. Wir einigten uns
auf ein leckeres Abendessen beim Vietnamesen – denn Gerhard
hatte es, obwohl Einheimischer, noch nicht bis dorthin geschafft.
Der nächste Morgen sollte den Besuch hier im Allgäu abrunden. Mit
dem Gepäck machten wir uns auf, das Hotel wieder zu verlassen.
Schon beim Frühstück hatte sie einige male etwas geschnüffelt – ich
hatte aber geschwiegen, wohlwissend, was mir gleich bevorstand.
„Ihhhh – was ist denn das?!“ Ich antwortete ganz ruhig: „Es gibt
heute abend oder morgen Regen.“
Sie starrte mich nur an: „Soo viel Gülle wird hier auf die Wiesen
ausgebracht – vor jedem Regen. Das kann man doch nicht ertragen,
diesen Gestank?! Diese Mengen von Fäkalien sollen für die Natur
zu verarbeiten sein, nicht das Grundwasser verseuchen?“
Wir fuhren schweigend ab – sie hielt sich ein Erfrischungstuch vor
die Nase, um den Gestank zu überdecken. Wenn sie gewußt hätte,
daß es normalerweise viel mehr stinkt. Wir hatten noch Glück mit
der Windrichtung gehabt. So wurde auch das Gebiet Allgäu als
unzumutbar abgelegt.