© by Thore Rudzki
3.Die Hanauer-Seuche mit Folgen
„Schon wieder so ein toter Nadelbaum! Sieht das
gespenstisch aus…“
Sie klang nicht nur entsetzt – sie stieg auch aus dem
Auto aus, mit dem wir gerade auf dem Weg nach Hanau
waren. Dort wollte ich ihr mein früheres Lebensumfeld
zeigen – und was alles mich letztlich bewogen hatte,
eine gesündere Umgebung zu suchen.
Als sie mit einem kleinen trockenen Ast wieder herein
kam, kräuselte sie ihre Nase: „Hier riecht es nicht gut –
nein – nicht der Baum, die Luft allgemein.“
„Früher war das hier mal als Luftkurort deklariert – ich habe irgendwo sogar
mal ein entsprechendes Schild gefunden. Inzwischen gibt es aber ein drittes
und viertes Industriegebiet – und nicht nur mit sauberer Technik. Allein die
Batterieherstellung dürfte schon für einiges an Schadstoffen verantwortlich
sein. Und vieles ahnt man ja sowieso nicht.“
„Aber man riecht es – wir müssen hier wirklich wegziehen.“
Nur wenig später – wir hatten inzwischen die Hügellandschaft hinter uns
gelassen – fuhren wir immer weiter abwärts der Autobahn entgegen – da
öffnete ich ihr Fenster ein wenig.
Sie schaute mich verwundert an – verstand dann aber – und atmete
mehrfach bewußt und tief ein. Und wieder hörte ich ihr „Ihhh!“ – noch lauter
als vorher. „Was ist das?“
„Das ist Frankfurt. Das Rhein-Main-Gebiet. Wir
sind aus den Höhen von zwar nur 200m herunter
gekommen. Aber nun in ein Becken auf 100m
Meereshöhe gefahren. Hier sammelt sich alles an
Benzinabgasen und Industrie-Giften – man muß
wirklich sagen, es stinkt“, erklärte ich ihr die
Gründe, warum ich damals so weit in die Provinz
hinaus gezogen bin.
„Es riecht so verbrannt – ja, eigentlich gefährlich. So etwas müssen also die
Millionen Leute hier einatmen?“
Wir fuhren schweigend weiter – erreichten die kleinen Straßen von Hanaus
Innenstadt. Zuerst die Industriegegend im Zentrum. „Schöne alte
Fabrikbauten“, staunte sie, als wir kurz vorm Werkstor hielten.
„Als ich früher dort arbeitete, kam ein Mann auf mich zu, während ich mir die
Gebäude mal genauer anschaute - zur besseren Orientierung. Er zeigte mir
einen Bereich nicht fern der Straße und erläuterte, daß dort alles furchtbar
vergiftet worden ist. Und daß es schon vor Jahrzehnten zugemauert wurde.
„Aber das Gift wird doch seinen Weg ins Erdreich finden?“, fragte ich ihn –
worauf er nur mit den Schultern zuckte. Viel schlimmer wären die Abgase,
meinte er.
Sie unterbrach mich, zeigte auf die großen Schornsteine: „Da sind doch
überall Filter – das ist doch Vorschrift.“
„Im Prinzip schon. Doch der Mann teilte mir mit, daß die Filter sehr teuer
wären. Und so öffnete man diese nachts, um die Abgase in die Luft zu
entlassen. Wenn der Wind gut stand, hatten sie Glück. Wenn nicht, sanken
die Abgase im Wohngebiet nieder. Und zweimal schon mußte diese Firma
den Autobesitzern eine neue Lackierung bezahlen.“
„In so einer Umgebung hast Du gewohnt? Aber nicht lange, hoffe ich. Wenn
man sich vorstellt, was das für die Lungen und die Gesundheit der Leute für
Folgen haben mußte!“
Wir fuhren die Hauptstraße am Werksgeländer weiter bis zur Abzweigung,
die in die Innenstadt führte. „Hier rechts – genau gegenüber dieser großen
Kreuzung – haben wir damals gewohnt. Ja, der Straßenlärm und die Abgase
waren schlimm – aber alles nichts gegen die Luftverseuchung aus anderen
Quellen. In der Nachbarwohnung lebte ein kleines Mädchen – 12 Jahre alt –
sie litt unter Neurodermitis. Man konnte förmlich sehen, wie es ihr immer
schlechter ging.“
„Warum sind sie nicht weggezogen?“ kam die entsetzte Frage.
„Die Ärzte sagten, daß wäre in dem Alter normal. Und es hätten viele Kinder
in dem Alter Allergien. Doch als es so bedrohlich wurde, daß demnächst
andauerndes Asthma drohte, zog die Familie auf das Land hinaus. Die
Mutter war Helferin bei meinem Arzt und informierte mich weiter über die
Gesundheit ihrer Tochter. Ja – und die wurde ganz schnell gesund –
innerhalb eines halben Jahres waren alle Beschwerden wie weggewischt.“
„Und was sagten die Ärzte dazu – die mußten das ja weiter kontrollieren –
untersuchen?“
„Nun – die Veränderung der Lebensumstände hätte wohl zu der Besserung
geführt! Es wäre wohl eine nervliche Komponente für die Allergie dabei
gewesen. In dem neuen Umfeld wirkte die wohl nicht mehr. Aber trotzdem
solle sie die Medikamente weiter nehmen.“
„…was sie sicher nicht tat. Wären doch alle Eltern so mutig, eigenständige
Entscheidungen zu treffen. Aber wer kann es sich leisten, auf das Land zu
ziehen. Der Arbeitsplatz ist meist wichtiger als die Gesundheit der Familie.“
Zwischenzeitlich waren wir kurz ausgestiegen – auf einem kleinen Parkplatz.
Hier konnte ich meine alte Wohnung im Sandeldamm von hinten sehen –
nach so viel Jahrzehnten eine seltsame Erinnerung.
Während ich damit beschäftigt war, hatte sie mehr die Umgebung betrachtet:
„Fällt Dir etwas an den Menschen auf?“ Ich verneinte.
„Sie sehen alle sehr traurig aus. Und grau?!“ Sie blickte mich fragend an.
„Ach das meinst Du. Schau auf ihre Augen – das ist das Schreckliche.“
„Oh ja – leer. Ganz leer. Auch die spielenden Kinder besonders – lachend.
Aber sie haben alle einen leeren Blick.“
„Dann fahr nicht nach Frankfurt, das ist zu deprimierend. Sie wachsen dort in
der Hektik und dem Lärm der Stadt auf, kennen Natur nur von einigen
wenigen Bäumen. Die wurden vereinzelt als Alibi dort angepflanzt. Die
Kinder sind immer in Anspannung und ohne die Hoffnung, je hier
herauszukommen.“
„Laß uns weiterfahren, ich mag das nicht mehr hören.“
Das war es aber noch nicht alles mit Hanau – es sollte noch schlimmer
kommen. Deshalb fuhren wir ein Stückchen weiter - in Richtung der großen
Kühltürme. Die ragten unübersehbar nahe am Horizont auf.
„Nein – mit dem Kraftwerk dort drüben hat es nichts zu tun. Meine andere
Geschichte – meine ganz persönliche Tragödie. Die entwickelte sich dort in
der Nähe. Die Tragik ist die Dummheit der Politiker und das Fehlen
elementaren Wissens.“
Wir waren inzwischen an einem großen, hohen Zaun angekommen. Ein gut
abgeschirmtes Werksgelände, jetzt wohl alles von Siemens in Besitz
genommen – hatte ich gehört.
„Hier wurden schon in den fünfziger Jahren die ersten Nuklear-Arbeiten
durchgeführt – Brennstäbe und deren Transport. Dafür war die Firma
deutschlandweit bekannt. Inzwischen wurde sie stillgelegt. Aber ihr Erbe
waren hohe radioaktive Werte im Grundwasser. Man beschloß, diesen
ganzen Bereich auszubaggern. Bis 7m-Tiefe – um an die radioaktiven Nester
heran zu kommen, die das wohl verursachten.“
Sie unterbrach mich: „Was sind radioaktive Nester – das klingt aber ziemlich
gefährlich?!“
„Ja – Du verstehst das wohl, aber keiner der
Verantwortlichen, die das ganze hier sanieren
sollten. Radioaktive Strahlung kann man gut
messen – heute. Damals aber nicht sehr gut, die
Meßgeräte waren zu unempfindlich. Und:
Strahlung gibt es ja nicht so einfach in der Luft –
darum redet man ja von Uran und ähnlichem. Also ein Mineral. Das, was
man damals eben nicht als gefährlich messen konnte, schüttete man einfach
weg, in das Erdreich. Und machte sich keine weiteren Gedanken darüber.“
„Oh, ich weiß, was jetzt kommt! Die haben wirklich Uran ins Erdreich gekippt.
Das ist doch mit das biologisch giftigste, was es überhaupt gibt…“
„Der normale Mensch weiß das – aber davon gab es hier wohl keine. Man
baggerte also das Erdreich aus. Und spülte den Untergrund mit Wasser. Man
legte Meßpunkte an, um die Verseuchung des Grundwassers zu prüfen.
Riesige Löcher entstanden dort. Und drumherum ganz hohe Sandberge,
dem Aushub aus den Vertiefungen.“
„Wie bitte – der vergiftete Sand lag einfach dort – hoffentlich trugen die
Arbeiter Schutzmasken?“
„Aber nein. Und mein Auftraggeber und ich auch nicht. Ich erstellte damals
ein Programm für die Verwaltung und Berechnung der radioaktiven
Dosiswerten von rund 1500 ehemaligen Mitarbeitern dort. Es war ein
stürmischer Tag, ich erinnere mich genau. Es war kaum möglich zu atmen,
denn so viel Sand flog durch die Luft. Aber ich mußte ja zu dem
Besprechungs-Container. Dieser stand zwischen den Gebirgen an Aushub.“
„Und Du hast die Uran-Partikel eingeatmet – winzige Mengen sind doch
schon tödlich!“
Ihre Betroffenheit war fast wie eine Lähmung. „Und wirklich keiner hatte
wenigstens eine Schutzmaske auf?“
„Es hat rund 10 Jahre gedauert, bis Deine Prognose wahr wurde“, setzte ich
mit leiser Stimme fort. „Mein Auftraggeber und ich erkrankten gleichzeitig –
er tödlich, denn er war jeden Tag und auch länger dort. Uran geht auf die
Bauspeicheldrüse – es war für ihn hoffnungslos. Für mich nur Koma und 4
Monate Intensivstation.“
„Sind das Mörder? Darf man sie so nennen? Nur, weil sie zu dumm sind, ihre
Arbeit und deren Folgen zu begreifen? Das wird doch dem größten Laien
klar. Daß, wo Strahlung ist, auch Substanz - also kleine Teilchen - da sein
müssen. Und die diese Strahlung abgeben. Da reichen doch Mikrogramm-
Mengen als Gift. Gerade wenn es so direkt über die Lunge in den Körper
gelangt. Was sonst hätte man machen denn sollen?!“
„Seit dem Tod meines Auftraggebers rede ich auch nur noch von den
`Dummen Grünen´ - denn sie wissen nicht, was sie tun. Nur mit Ideologie
kann man keine naturwissenschaftlichen Aufgaben bewältigen. Man muß
auch bereit sein zu lernen - um zu verstehen. Und hier hatte keiner
nachgedacht - es verstanden – ein tödlicher Fehler.“
„Ich möchte nicht wissen, wie viele noch erkrankt sind – die armen Arbeiter,
die den Sand ausbaggern und bewegen mußten. Deren Erkrankungen
blieben doch im Verborgenen. Weil es so lange dauerte, bis die Uran-
Moleküle ihre schlimme Wirkung erreichten.“
„Deshalb ist es so furchtbar naiv, immer nur Strahlung zu messen. Ein
radioaktives Sandkorn wird nicht vom Sensor erfaßt – ist unterhalb der
Grenzwerte. Aber es ist eben kein Sand, sondern ein winziges Staubkorn
Uran.“
„Nein“, nahm ich ihre Frage vorweg, „ich habe die entsprechenden Politiker
und Prüfstellen nicht von meinen Überlegungen informiert. Aber wenn man
nur etwas logisch denken kann – und es auch tut – ist die Wahrscheinlichkeit
für eine gleichzeitige Erkrankung derselben Art bei zwei Menschen, die nur
diesen einen gemeinsam hatten, sicherlich 1.000.000 zu 1. Es kann nur so
etwas gewesen sein.“
„Die hätten das nicht ernst genommen. Und es war ja auch über 10 Jahre
her. Wie will man das beweisen? Man hätte ja auch einen eigenen Fehler
zugeben müssen. Nein, das kann keiner von Politikern und Beamten
erwarten.“
Ja – das war die Hanauer Erinnerung, die mich fast das Leben gekostet hat.
Wir fuhren schweigend nach Hause – sie tief erschüttert. Ich in traurigen
Erinnerungen an die schrecklichen 8 Monate im Krankenhaus.
Noch einmal hob sie kurz ihren Kopf, als würde etwas Besonderes um sie
herum geschehen. „Riechst Du das?“
Ich meinte nur lapidar: „Schau nach unten, wir fahren gerade über den Main.
Bis hierher hat er über 100 Fabriken und illegale Zuleitungen hinter sich.
Aber denke auch daran, daß man in ihm baden kann! Ja – es wurde dem
Main wirklich Badequalität zugestanden.“
„Was man nicht sieht, das gibt es nicht – das ist schon eine uralte Weisheit.
Schneewittchen hätte den Apfel sicher nicht gegessen, hätte die Königin ein
sichtbares Gift verwendet. Was so seltsam riecht, kann sicher nicht gesund
sein. Ich würde jedenfalls in diese Brühe nicht hineinspringen.“ Sie wendete
sich mit einer entschiedenen Kopfbewegung vom Main ab.
„